Dienstag, 5. Dezember 2017

der falsche Onkel

Leise, um nicht entdeckt zu werden, lauschte ich an meiner Tür. Gott sei dank unterhielten sich die beiden Männer laut genug, ging es mir durch den Kopf als ich sie reden hörte. Ich wollte endlich antworten haben und da mir niemand hier antworten gab (also keine, die mir wirklich weiterhalfen), musste ich sie mir eben so holen.
"Sie ist ganz bestimmt die richtige", murmelte der eine Mann, den ich heute zum ersten Mal gesehen hatte.
"Ja, hast du ihr mal gesehen?", fragte der andere, der mich seit einigen Jahren, seit meine Eltern tödlich verunglückt sind aufzog. Onkel Gregor. Bis zu jenem Tag hatte ich noch nie etwas von ihm gehört. Als ich ihm das sagte, lachte er und erklärte, dass er sich schon in seiner Jugend mit seinem jüngeren Bruder zerstritten hatte. Zuerst hatte ich ihm nicht glauben wollen, konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater seinen eigenen Bruder verleugnete, aber Gregor zeigte mir Fotos von ihnen, seine Geburtsurkunde und alles was ich damals verlangt hatte, um mir glaubhaft zu beweisen, dass er wirklich mein Onkel war.
"Das kann man ja gar nicht übersehen", wisperte der andere wieder, "es zieht sich ihren ganzen Nacken hinauf!" Unwillkürlich griff ich mir in den Nacken und spürte das Mal unter meiner Haut pulsieren. Niemand konnte mir erklären woher es kam und was es bedeutete. Einige vermuteten, dass man mich als Säugling tätowieren lassen hat, aber ich wusste, dass das totaler Unsinn war. Es veränderte sich. Nicht viel, aber wenn man es, wie ich, jeden Tag beobachtete fiel es schon auf. Die Farben änderten, es kamen neue Ranken hinzu und andere verblassten erst und verschwanden irgendwann komplett. Doch das ist außer meinen Eltern noch niemandem aufgefallen. Kleine Elfe, so haben sie mich wegen des Mals immer genannt.
"Dann sollten wir die Herrin rufen", murmelte mein Onkel. Die Herrin? Wer sollte das denn sein? Mein Onkel war nicht verheiratet.
"Einverstanden", raunte der andere verschwörerisch. Was hatte das denn alles bloß zu bedeuten? "Weißt du, was es bedeutet, wenn sie wirklich die Richtige ist?"
"Natürlich."
"Dann kann unsere Herrin endlich ihre Macht wieder an sich nehmen und endlich die Welt zu unseren Vorstellungen formen." Der andere Mann kam richtig ins schwärmen, was sie alles ändern wollen, sobald ihre komische Herrin nur an der Macht war.
Ohne Vorwarnung ging die Tür auf und knallte mir heftig gegen den Kopf. Erschrocken strauchelte ich einige Schritte zurück und rieb mir den schmerzenden Kopf.
"Was machst du denn hinter der Tür, du meine Güte?", fragte mein Onkel sichtlich nervös.
"Ich... ich wollte doch nur in die Küche und mir etwas zu trinken holen", erwiderte ich schnell. Ich konnte das Zittern in meiner Stimme hören und befürchtete, dass Onkel Gregor mir nicht glauben würde.
"Na, nur zu, Liebes, wir wollen ja nicht, dass du uns hier verdurstest, gell?", sagte er lachend und hielt mir die Tür auf. Nervös lächelte ich und lief - etwas zu schnell - in die Küche und holte ein Glas aus dem Schrank und öffnete den Kühlschrank und tat so, als würde ich überlegen, was ich denn jetzt trinken wollte.
"Sie ist auf dem Weg", sagte mein Onkel feierlich. "Bald wird das ganze Theater endlich vorbei sein."
"Geht es dir nicht Nahe?", fragte der Andere. "Immerhin hast du sie die letzen Jahre auswachsen sehen. Also ich könnte das sicherlich nicht!"
"Wenn mein Bruder, der dreckige Versager, damals nicht einfach untergetaucht wäre und sie unserem Zirkel weggenommen hätte wäre das alles nicht nötig gewesen und er und Ewa würden noch am Leben sein!" Es dauerte einen ewig langen Moment, bis ich begriff, was er da gerade angedeutet hatte. Mein Vater ist mit meiner Mutter und mir geflohen und sie mussten wohl deswegen sterben. "Ich war mir damals schon sicher, dass sie es ist. Ich meine, mal ehrlich, diesen Unfall hätte sie unmöglich überleben können! Selbst als Ewas Tochter wäre sie nicht mächtig genug gewesen! Aber die Herrin wollte abwarten, sichergehen und kein Risiko eingehen."
"Sie kann das Ritual auch nur einmal durchführen", murmelte der andere und klang nachdenklich.
"Aber ich hätte dieses Balg nicht all die Jahre durchfüttern müssen!", keifte Onkel Gregor. Mir blieb vor Schreck der Atem weg. Ich konnte nicht glauben, was er da sagte und das mit einer solchen Heftigkeit, die ich bei ihm noch nie erlebt hatte. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich begriff nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Wo war ich hier nur reingerutscht? Und viel wichtiger, wie komme ich hier wieder raus? Heiße Tränen liefen mir übers Gesicht und ich versuchte die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Jetzt in Panik zu geraten, wäre wohl mein sicherer Tod. Zumindest wenn ich das alles hier wirklich richtig verstanden hatte.
Das Klingeln der Haustür riss mich jäh aus meinen Gedanken raus.
"Liebes, geh und öffne doch bitte die Tür und schicke den Gast in mein Arbeitszimmer!", rief Onkel Gregor laut. Ihm schien nicht bewusst zu sein, dass ich auch ohne lautes Rufen alles verstehen konnte, was mein Glück war.
"Natürlich", rief ich zurück und bemühte mich so normal, wie nur irgend möglich anzuhören. Also schloss ich den Kühlschrank und ging zu Haustür. Vor der Tür atmete ich noch einmal tief durch, wischte mir mit den Händen über das Gesicht und öffnete dann die Tür.
Vor mir stand eine Frau in einem schwarzen Kostüm, dass ihr hervorragend passte und noch besser stand. Ihre blonden Haare hatte sie zu einer eleganten Hochsteckfrisur zusammengesteckt. Sie strahlte mich begeisternd an: "Guten Tag, du musst Alyssa sein. Es freut mich außerordentlich dich endlich kennenzulernen, meine Liebe." Sie reichte mir die Hand und sah mich erwartungsvoll an. Ruhig bleiben, dachte ich und atmete tief ein und strahlte sie dann ebenfalls an: "Guten Tag, ja genau, die bin ich. Mein Onkel Gregor", dieser miese Lügner, "erwartet Ihre Ankunft in seinem Arbeitszimmer."
"Ach, wie reizend von ihm, danke. Ich finde allein dorthin", sagte sie und war auch schon an mir vorbei gegangen, in die Richtung des Arbeitszimmers. Langsam schloss ich die Tür, doch nicht ohne mich nach jemandem umzusehen, der mir helfen konnte. Es war niemand zu sehen.  Jack!, dachte ich hoffnungsvoll, ich musste Jack erreichen.
So schnell ich konnte, ohne dass es merkwürdig war ging ich zurück in mein Zimmer und suchte mein blödes Handy, aber der kleine Apparat war verschwunden. Das nächste Telefon war unten vor dem Arbeitszimmer gewesen und da würde Onkel Gregor mich erwischen. Wo war bloß mein Handy? Ich hätte schwören können, dass ich es auf meinem Schreibtisch liegen gelassen hatte, aber es war einfach nicht da.
"Alyssa!", rief die Stimme meines Onkels. "Liebes, kannst du bitte mal zu uns kommen?" An seiner Stimme klang nichts bedrohlich oder irgendwie verräterisch, doch mit einem Mal beschleunigte sich mein Herzschlag unerträglich schnell. Ich suchte nach irgendetwas, dass ich als Waffe benutzen konnte und fand nur meine Nagelfeile. Typisch, sowas kann nur mir passieren! Wieso war ich auch nicht zurück in die Küche gelaufen? Da gab es Messer und Scheren! Oder ich hätte über die Terrasse weglaufen können. Dort wäre ich irgendwann an den Übungsplätzen vorbei gekommen und hätte dort Jack antreffen können, der hätte mir sicher helfen können.
"Alyssa!", rief er jetzt ungeduldig. "Was dauert denn so lange?"
"Einen Moment!", rief ich zurück und überlegte fieberhaft, was jetzt nur tun sollte. Ich musste hier raus! So schnell wie möglich. Also schlich ich zu meiner Zimmertür und legte ein Ohr daran, um zu lauschen, ob an der anderen Seite etwas zu hören war. Stille, deswegen öffnete ich die Tür und spähte durch einen schmalen Schlitz. Niemand war zu sehen. Vorsichtig, um keine unnötigen Geräusche zu produzieren, schob ich mich auf den Gang und schloss die Tür sachte hinter mir. Dann schlich ich über den Flur und hörte von unten meinen Onkel sagen, dass er nachsehe wo ich blieb. Panik trieb mich schneller voran und ich versteckte mich hinter einer großen Statur nahe der Treppe. Kaum war ich in dem Schatten verschwunden, kam mein Onkel die Treppe hinauf und hämmerte gegen meine Zimmertür.
"Alyssa! Du kommst sofort mit mir runter!", brüllte er jetzt total wütend und donnerte noch einmal gegen meine Tür. Es tat sich (selbstverständlich) nichts, denn ich war nicht mehr in dem Raum. Er riss die Tür auf, so das ich angst hatte, er würde sie aus den Angeln reißen und schrie: "Sie ist weg!"
"Sucht sie!", zischte die Frau. "Ich brauche sie!"
"Ruft die Jungen, sie können helfen!", brüllte mein Onkel den anderem Mann an.
"Die Jungen?", fragte dieser etwas dümmlich. "Sie meinen die Anwärter, oder?"
"Natürlich meine ich die ANWÄRTER du Idiot!", keifte mein Onkel. Er rauschte jetzt wütend an mir vorbei und für einen Bruchteil der Sekunde dachte ich, dass jetzt alles vorbei wäre. Doch als ich begriff, dass er mich gar nicht bemerkt hatte, ergriff ich meine Chance und rannte die Treppe und hatte die Haustür gerade aufgemacht als mich jemand packte und heftig zurück riss. Im selben Augenblick trat jemand die Tür auf und ich erkannte Jack. Tränen der Erleichterung liefen mir die Wangen runter.
"Was zum Teufel ist hier los?", fragte er verwirrt und sah sich fragend um.
"Jack?", fragte die Frau, die mich im Nacken festhielt, wie mir jetzt auffiel. Entsetzt begriff ich, dass die beiden sich kannten. Nein, nein, nein, nein, nein! Wieso ist mir das nicht gleich aufgefallen! Ich hatte Jack nicht informiert über die merkwürdigen Dinge, die ich belauscht hatte. Er ist nicht hier, um mir zu helfen.
"Mutter?", fragte er ungläubig und es schien so etwas wie Erkenntnis in ihm aufzukommen. "Alyssa?"
"Was tust du hier?", zischte seine Mutter und klang dabei mehr wie eine Schlange. Sie bohrte ihre langen, manikürten Fingernägel in meinen Hals, sodass ich laut aufstöhnte.
"Lass sie sofort los!", sagte Jack entschieden und sein ganzer Körper spannte sich an. "Du bist auch in dieser irren Sekte?" Fassungslosigkeit und Enttäuschung schwangen in seiner Stimme mit.
"Ich bin nicht "in" der Sekte ich bin "die" Sekte!", kreischte sie.
"Lassen Sie mich los", wimmerte ich und begann endlich mich zu wehren. Ich trat nach ihr und schlug wild um mich und als ich schon dachte, sie hätte mir eher den Kopf abgerissen als loszulassen, schaffte ich es irgendwie mich loszureißen und stolperte von ihr weg. Durch die plötzliche Freiheit geriet ich ins Straucheln und drohte das Gleichgewicht zu verlieren, schaffte es aber mich an etwas festzuhalten.
"Ich hab dich", sagte Jack mit sanfter Stimme und nahm mich schützend in seine Arme. Jetzt tauchte mein Onkel auf dem obersten Treppenabsatz auf und hielt einen Revolver auf uns gerichtet. Langsam kann er die Treppe runter und zielte genau auf Jacks Gesicht.
"Du wirst meine Nichte jetzt sofort loslassen", sagte Onkel Gregor in einer merkwürdig ruhigen Stimme. Er machte mir fürchterliche Angst und noch größere hatte ich fast, dass Jack tun könnte was ihm befohlen wurde. Aber dieser dachte gar nicht daran und schob mich hinter sich. Weg von der Gefahr, ging es mir durch den Kopf.
"Jack!", zischte seine Mutter sichtlich nervös. Anscheinend war sie bereit ihn töten zu lassen, um an mich heranzukommen. Das war doch wahnsinnig! Reiner Irrsinn!
"Jack", hauchte ich und versuchte mich vor ihn zu schieben, doch Jack ließ mir keine Chance.
"Auf keinen Fall!" Jack stand vor mir wie ein Fels.
"Junge, ich sagte es nicht noch einmal", donnerte Onkel Gregor.
"Ich werde es auch nur einmal sagen", sagte eine weitere vertraute Stimme hinter mir. Matt, Jacks bester Freund, und richtete eine Waffe auf den Kopf meines Onkels. Das waren mir eindeutig zu viele Waffen. Ich nutze die Ablenkung, stürzte mich an Jack vorbei auf den Revolver meines Onkel und wollte ihn ihm abnehmen. (Was ich mir dabei gedacht hatte, wusste ich ehrlich gesagt zu diesem Zeitpunkt auch nicht!) Mein Onkel bemerkte in letzter Sekunde was ich vor hatte und so begann ein Gerangel um die Waffe.
Aufgeregte Stimmen riefen sowohl meinen Namen als auch den meines Onkels, doch das zählte für keinen von uns. Mein Überleben hing von diesem Ding ab und ich konnte ihn nicht gewinnen lassen. Er hatte meine Eltern umgebracht, zumindest war es maßgeblich daran beteiligt.
Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch die Halle und erschrocken hielten wir beide inne. Jeder starrte den anderen erwartungsvoll an. Dann wurde mich mit einem Mal eiskalt und alles drehte sich.
Auf der Brust meines Onkel bildete sich ein roter Fleck, der schnell, sehr schnell immer größer wurde. Erschrocken wich ich ein paar Schritte zurück und starrte ihn weiter an. Jemand nahm mir die Waffe aus der Hand und drückte mich eng an sich.

Später erklärte man mir alles. Mein Onkel und Jacks Mutter gehörten einer Sekte an, die der Meinung waren, dass ich ein Kind sei, dass wie meine Mutter wohl auch schon vor mir, von Engeln abstammten und wenn man jemanden wie mich bei Neumond opferte und dann das Blut trank unsterblich werden würde.
Die Polizei, explizit Matt, der als verdeckter Ermittler an dem Fall dran war, hatte Jack mit in die Sache eingebunden, weil er seinen Freund nicht belügen wollte und es auch einfach nicht konnte. Jack hatte wohl sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Jack wollte mich nicht verunsichern und mir nicht unnötig Angst machen. Sie waren beide ans Anwärter bei der Sekte gewesen und sobald sie begriffen hatten, was da wirklich abging hatte Matt Verstärkung gerufen und Jack wollte mich nur noch daraus holen. Er hatte allerdings die ganze Zeit nicht wahrhaben wollen, dass seine Mutter (und auch sein Vater) teil der Sekte waren.
Ich konnte das alles einfach nicht verstehen. Sie hatten meine Eltern und wer weiß wen noch alles getötet um unsterblich zu werden. Das war einfach Wahnsinn gewesen und ich? Ich hatte jetzt keine Familie mehr. Matt hatte mir erklären müssen, dass mein Onkel seinen Verletzungen unterlegen ist, ich allerdings nicht mit weiteren Folgen rechnen brauchte, da es ganz klar ein Versehen war. Immerhin wollte ich nur mein eigenes Leben (und das von Jack) retten.
Jack war die ganze Zeit nicht von meiner Seite gewichen. Er hatte sich schlichtweg geweigert zu gehen.

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