Dienstag, 26. Dezember 2017

Weil ich es mir nicht vorstellen konnte...

Seit dem Mord an Patrick war es nicht mehr das Selbe. In der WG redeten wir kaum noch miteinander, warfen uns misstrauische Blicke zu und schlossen unsere Zimmertüren ab. Mir war bewusst, dass die meisten mich verdächtigten und mich deswegen mieden. Aber ich war es nicht! Ich hatte Patrick nicht getötet. Er war mein Stiefbruder gewesen und wir haben uns viel gestritten, das konnte ich nicht leugnen, aber dennoch hatten wir uns gern. Ich konnte mich nicht mal mehr an ein Leben ohne ihn und seine Mutter erinnern, geschweigedenn konnte ich mir eine Zukunft ohne ihn vorstellen. Sogar die Polizei hatte vermutet, dass ich ihn getötet haben könnte und hatten mich Stunden lang befragt und hatten mich sogar Tage lang beschatten lassen. Erst als sie die Bestätigung hatten, dass ich wegen eines Vorstellungsgespräches in einer anderen Stadt war, haben sie von mir abgelassen. Jetzt standen sie wieder bei Null. Mein Vater wollte, dass ich wieder nach Hause kam, aber ich konnte nicht nach Hause zurück, nicht ohne Patrick.

Ich saß im Wohnzimmer und arbeitete an einer Hausarbeit, die bald fällig war, was ich nur noch tat, wenn niemand zu Hause war. Es war das erste Mal, dass ich seit dem das passiert war, wieder daran arbeitete und ich schaffte ein ziemliches Stück.
"Cassia", sagte Marks überraschte Stimme hinter mir. "Dich sieht man nur noch selten." Vor Schreck zuckte ich heftig zusammen und dabei fiel mein Laptop und die Bücher runter. "Wow, tut mir voll leid!" Er hob die Hände und grinste mich breit an.
"Tut mir leid", murmelte ich, rutschte von der Couch und sammelte meine Sachen wieder auf. Mark kam zu mir herum, kniete sich vor mich und half mir.
"Du kommst kaum noch aus deinem Zimmer", sagte er, nachdem wir alles aufgehoben hatten.
"Ihr glaubt doch alle, dass ich Patrick...", ich konnte es nicht aussprechen, ich konnte es ja nicht einmal akzeptieren.
"Das glauben wir nicht", sagte Mark erst und suchte meinen Blick, doch ich wich ihm aus. Ich hatte gemerkt, wie Gespräche verstummten, sobald ich ins Zimmer kam, wie sie mir Blicke zuwarfen und nachdem die Polizei mich mitgenommen hatte, mieden mich alle. "Ja, na gut, dass ist Schwachsinn! Nachdem die Polizei dich hier abgeführt hat, haben wir das alle geglaubt, aber du wurdest entlastet und du warst ja nicht mal in der Stadt! Jeder, der das jetzt noch glaubt ist ein Idiot."
"Ihr seid alle Idioten", murmelte ich und drehte mich zum Gehen. Ich war enttäuscht. Es war eine Sache zu glauben, dass sie mir einen Mord zu trauten, es war etwas ganz anderes es zu hören. Und dann auch noch von Mark! Bevor es passiert war, dachte ich, dachten wahrscheinlich alle, dass wir das nächste "Traum-Paar" werden würden, sehr zum Missfallen meines Bruders. Mark war das Streitthema, wie eigentlich jeder Mann der mir gefiel. Patrick glaubte immer, mich beschützen zu müssen, vor allem und ganz besonders vor jedem Mann. Als wir damals hier eingezogen sind, hatte er damit angefangen mich zu kontrollieren, wollte wissen wohin ich gehe, mit wem ich wegging und hatte des öfteren meine SMS und Anrufe gecheckt. Nachdem Mark hier einzog und wir uns immer besser verstanden, hatte es seinen neuen Höhepunkt erreicht.
"Cassia?" Mark hielt mich am Arm fest. "Es tut mir wirklich Leid, ok?"
"Ja, ich habs gehört", murrte ich, entzog mich seinem Griff und eilte in mein Zimmer. Dort angekommen, schloss ich die Tür und lehnte mich dagegen.

Es war schon dunkel, als es an meiner Tür klopfte. Verunsichert setzte ich mich auf und sah auf die geschlossene Tür, als könne ich durch sie hindurch sehen.
"Cassia?", flüsterte Hannah leise. "Bist du noch wach?" Ohne zu antworten ging ich zur Tür und öffnete meiner besten Freundin die Tür.
"Hannah, was ist los?", fragte ich besorgt. Hannah war die Einzige gewesen, die immer an mich geglaubt hat, selbst als die Polizei sich auf mich eingeschossen hatte. Sie stand unerschütterlich zu mir, egal was die anderen sagen oder taten, sie verteidigte mich.
"Ich weiß nicht so recht. Also ich hab da so eine Theorie entwickelt, aber die ist wirklich total absurd", sagte sie nervös. "Ach, was rede ich, ich hätte dich damit gar nicht belasten sollen."
"Jetzt erzähl schon Hannah, so verrückt kann sie nicht sein, wenn du dir ernsthaft sorgen machst."
"Ok, aber wie gesagt, dass ist bestimmt totaler Quatsch. Aber was ist, wenn die Polizei recht hat was das Motiv angeht?"
"Warte, willst du damit sagen, dass ich es doch war?", fragte ich sie fassungslos.
"Natürlich nicht! Aber was ist, wenn Patrick nicht nur dir Stress gemacht hat, sondern auch Mark. Nur mal angenommen, Cassia, ich sagte doch, dass das ziemlich absurd ist!", sagte sie schnell als sie meinen skeptischen Blick sah. "Aber du weißt doch, wie Patrick war. Er hat dir nachgestellt und dich kontrolliert, wo er nur konnte und wer sagt denn, dass er das nicht auch bei Mark getan hat. Was ist, wenn Patrick zu Mark gegangen ist und ihm gesagt hat, dass er die Finger von dir lassen soll und Mark ihm dann einen seiner Sprüche gedrückt hat. Patrick ist ausgerastet und hat ihn angegriffen und Mark musste sich wären. Oder Patrick stand ihm im Weg um an dich ran zu kommen."
"Was willst du damit denn sagen?", fragte ich und spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam.
"Naja, als er hier auftauchte hat er sich sofort auf dich konzentriert und nicht mal eine andere angeguckt. Ich meine nicht das du das nicht wert währest, aber er ist halt auch nur ein Mann", erklärte sie und zuckte verlegen mit dem Schultern. "Vielleicht ist er ja bisschen zu sehr von dir angetan, wenn du verstehst", sagte sie und machte mit dem Zeigefinger Drehtbewegungen am Kopf.
"Willst du damit sagen, dass er...", ich spiegelte die Bewegung.
"Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er sich ziemlich merkwürdig verhält. Er saß heute den ganzen Abend im Wohnzimmer und starrte deine Tür an und hat jeden angemacht, dass das alles deren Schuld sei", sie machte eine Pause und sah zu meiner Zimmertür und für dann, noch leiser, fort: "Er hat mir wirklich Angst gemacht und das nicht zum ersten Mal."
"Glaubst du, wir sollten damit zur Polizei gehen?", fragte ich.
"Was willst du ihnen denn erzählen? Das sind alles nur Spekulationen, wir haben keinen Beweis."
"Du hast ja recht", sagte ich niedergeschlagen und ängstlich zugleich. Hatte sie recht und Mark steckte wirklich hinter dem Mord? Ich spürte wie Panik in mir hochkochte und ich brauchte frische Luft. Also zog ich mich an, sagte Hannah, dass ich hier raus musste und schlich mich aus dem Haus.
Die kühle Nachtluft tat mir gut und ich zog sie ein paar Mal tief ein. Meine Gedanken überschlugen sich und ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Mit einigem, was Hannah gesagt hatte, hatte sie recht gehabt. Patrick hatte mich Kontrolliert und es war nicht ausgeschlossen, dass er es auch bei Mark versucht hatte. Mark hatte von Anfang an nur Augen für mich gehabt und hatte alle anderen abblitzen lassen. Aber ich wollte nicht glauben, dass er meinen Bruder getötet hatte. Er war ein guter Kerl. Aber ich konnte auch nicht die Augen davor verschließen, dass einer meiner Freunde meinen Bruder getötet hatte.
"Cassia!", rief Mark und ich zuckte heftig zusammen. Offenbar hatte Hannahs Theorie mir doch gehörig Angst gemacht.
"Mark", sagte ich und wich ein Stück von ihm zurück. "Was machst du hier?"
Er sah an sich herunter, als wäre die Antwort offensichtlich - was sie zugegeben auch war, denn er trug seine Lauf-Sachen. "Ich war laufen", sagte er und sah mich verwirrt an. "Wie jeden Abend."
"Ja, stimmt, du gehst jeden Abend allein Laufen." Mir dämmerte langsam, dass er für die Tatzeit kein Alibi hatte.
"Cassia, ist alles in Ordnung? Du wirkst irgendwie, naja, keine Ahnung, ängstlich?"
"Ich hab mich nur erschrocken", erwiderte ich und rang mir ein Lächeln ab. Er kaufte es mir nicht ab.
"Du... du glaubst, ich hätte..." Er sah mich voller Entsetzen an. Aufrichtiges und ehrliches Entsetzen. Jetzt war er es, der ein paar Schritte zurückwich. "Ist das dein Ernst?"
"Nein... ja, keine Ahnung, Mark! Eigentlich glaube ich es nicht, aber Hannah..."
"Hannah?", fragte er verwirrt. "Was hat Hannah damit zu tun?"
"Sie hat da eine Theorie, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Patrick dich damit konfrontiert hat. Das hat er noch nie getan!"
"Wovon redest du, Cassia?", fragte er und kam einen Schritt auf mich zu. Erschrocken starrte ich ihn an. Ohne es zu wollen, hatte er mir geholfen Klarheit in mein Gedankenchaos zu schaffen. Hannah wusste nichts von Patricks Kontrollwahn. Wie konnte ich dass nur übersehen?
"Mark, ich...", ich brach ab als ich sah, wie Hannah irgendetwas auf Marks Kopf schlug und dieser einfach in sich zusammen sackte. Ich schrie entsetzt auf.
"So, jetzt sind wir endlich zu zweit", sagte sie und lächelte mich an. Allerdings stimmte etwas mit ihrem Gesicht nicht, es wirkte falsch.
"Was hast du getan, Hannah?", fragte ich und Tränen liefen über mein Gesicht. Alles in mir wollte die Wahrheit rausschreien, aber ich konnte sie nicht ertragen.
"Ich habe dich befreit, jetzt steht uns endlich niemand mehr im Weg", sagte sie zufrieden. "Patrick wollte dich von mir Fernhalten, er sagte, ich sei eine Psychopathin! Kannst du das glauben? Aber das konnte ich nicht zulassen, wir gehören doch zusammen."
Sie war verrückt! Richtig und völlig duschgeknallt! Und sie war besessen von mir. Ich sah zu Mark, der immer noch reglos am Boden lag. "Was ist mit Mark? Wieso hast du ihn... ?"
"Er wollte dich mir wegnehmen! Du gehörst du mir!", zischte sie wütend und ein paar Tröpfchen Speichel spritzen aus ihrem Mund. Sie hatte einen kompletten Realitätsverlust.
"Also wolltest du, dass ich glaube, dass er meinen Bruder getötet hat und ich ihn für einen Stalker oder so was halte?" Fassungslos starrte ich sie an. Alles was sie über Marks Konfrontation mit Patrick erzählt hat, war ihr passiert. Daher wusste sie wahrscheinlich auch, dass Patrick mich kontrolliert hatte, weil sie mich verfolgt hatte. Und in ihrer Rolle als beste Freundin konnte sie das auch ganz einfach.
"Du hast sie meinetwegen getötet?", fragte ich schluchzend und sah kaum noch etwas durch die dicken Tränen. Sie war verrückt!
"Nein!", kreischte sie schrill. "Warum kapierst du das denn nicht? Ich hab es für UNS getan!"
"Nein", weinte ich und wich zurück. "Ich will das nicht." Sie schrie wütend auf und kam mit schnellen Schritten auf mich zu: "Wir gehören zusammen! Früher oder später wirst du das schon einsehen!" Sie packte mich in den Haaren und ich schrie auf.
"Bitte, Hannah, lass mich los", weinte ich und versuchte mich aus ihrem Griff zu befreien. Ich wollte nur noch hier weg. Hoffentlich bekamen die Nachbarn den Streit mit und riefen die Polizei, bevor es zu spät war.
"Wenn du nicht bei mir sein willst, dann wirst du nirgendwo mehr sein", plötzlich hatte ihre Stimme sich verändert und war jetzt ruhig und gefasst, aber trotzdem irgendwie schräg und verzerrt.
"Was soll das heißen?", fragte ich und bekam kaum noch Luft. Panik breitete sich in mir aus. Etwas blitze in ihrer Hand auf und als sie es vor mein Gesicht hielt erkannt ich ein Messer. Eigentlich nicht nur irgendein Messer, sondern das Taschenmesser meines Bruders. Die Polizei ging davon aus, dass er mit diesem erstochen worden war und dass der Täter oder besser die Täterin es behalten hatte. Ich riss wie wild an meinen Haaren und versuchte ihre Hand daraus zu befreien, aber ich schaffte es nicht.
Plötzlich löste sich ihr Griff und sie kippte einfach um. Hinter ihr erkannte ich Mark der eine Flasche in der Hand hielt. Vor Erleichterung gaben meine Beine unter mir nach und ich kniete neben Hannah auf dem Boden.
"Nein, komm, wir müssen hier weg und die Polizei rufen!", sagte Mark und zerrte mich zurück auf die Beine. "Komm schon, Cassia, du musst mitmachen!" Er zog mich hektisch hinter sich her, zurück in die WG, knallte die Haustür zu und schob den Riegel davor. Dann griff er sich das Telefon und wählte beim Laufen eine Nummer und redet mir irgendjemanden, was ich nicht hören konnte. Ich war in den letzten Minuten gefangen, sah immer und immer wieder, wie Hannah Mark niederschlug, wie sie mir freudig berichtete, dass sie meinen Bruder getötet hatte und wie sie versucht hat mich zu töten.
"Cassia, bist du verletzt?", fragte Mark besorgt und nahm mein Gesicht behutsam in seine Hände. Ein lautes Krachen ließ mich zusammenfahren und Hannahs hysterisches Schreien auf der anderen Seite der Tür gab mir den Rest. Es sollte einfach nur aufhören. Ich wollte meine Ruhe!
"Sie kommt hier nicht rein", murmelte Mark und zog mich eng an sich. In der Ferne hörten wir endlich die Sirenen der Polizeiwagen und Erleichterung machte sich in mir breit. Es war vorbei.

Nach wie vor hatte ich immer noch nicht begreifen können, wie ein Mensch so weit gehen kann und das, weil dieser glaubt aus Liebe gehandelt zu haben. Hannah wurde verurteilt und muss ihre Strafe in einer Anstalt absitzen. Mark und ich haben uns zumindest körperlich von dem ganzen erholt, aber ich habe immer noch Albträume, obwohl das schon ein Jahr her ist. Mark und ich waren seit jener Nacht zusammen und waren nun auf der Suche nach einer eigenen Wohnung in der Nähe meiner Eltern.

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